Grenzenlose Selbstbestimmung oder Selbstbestimmung an der Grenze

05. Juni 2014

Dernbach. Interview mit Dr. Petra Kutscheid, Medizinethikerin und Palliativmedizinerin

Autonomie ist zu einem Schlagwort der Gegenwart geworden, gibt es sie, die grenzenlose Selbstbestimmung?

Dr. Kutscheid: In zwischenmenschlichen Beziehungen, Krankheit und Sterben wird es deutlich, wir haben unser Leben nicht gänzlich in der Hand, keiner.

Wie steht es denn dann um die Selbstbestimmung, gerade in den genannten Grenzsituationen?

Dr. Kutscheid: Autonomie meint hier nicht, dass wir bis zuletzt alles in der Hand haben können. Gerade in Grenzsituationen möchten wir gefragt sein, was uns wichtig ist, möchten geachtet sein. Das versteht man heute auch unter Patientenautonomie.

Manche Menschen möchten allerdings ein schnelles Ende verfügen können, bevor sie geistig und körperlich an Kraft verlieren.

Dr. Kutscheid: Hier geht Selbstbestimmung sowohl an die Grenze dessen, der über sich selbst bestimmen möchte als auch an – oder über die Grenze derer, die begleiten, helfen oder beistehen wollen. Niemand trifft Entscheidungen nur für sich allein. Betroffen sind immer Mitmenschen, die hierbei auch eigene ethische Grenzen erreichen.

Diskussionen um Selbstbestimmung in der Krankheit scheinen jedoch die grenzenlose Selbstbestimmung auch im Sterben zu meinen und zu fordern.

Dr. Kutscheid: Mir stellt sich die Frage: Handeln Menschen in existentieller Bedrängnis wirklich selbstbestimmt? Kann es nicht sein, dass der unheilbar Kranke das Gefühl hat, die Umgebung so sehr zu belasten, dass diese es nicht mehr aushält? Wie frei sind Verfügungen und Bestimmungen im Angesicht schwersten Leides und nachlassender Kräfte? Hier gerät Selbstbestimmung an die Grenze und muss inhaltlich an der Menschenwürde gemessen werden.

Sollte man den Sterbewunsch eines Schwerstkranken denn gar nicht ernst nehmen?

Dr. Kutscheid: Es zählt unbedingt zu den ärztlichen Aufgaben, sich respektvoll mit Todeswünschen von Patienten auseinanderzusetzen. Es gibt sie und sie sind nicht selten. Die Äußerung von Sterbewünschen Schwerstkranker werte ich zunächst als Zeichen eines tiefen Vertrauens. Schwerkranke Menschen, die den Wunsch zu sterben äußern, wünschen jedoch nicht zwingend den sofortigen eigenen Tod, sondern oft das Ende einer unerträglichen Situation. Hier sind Wahrnehmung und Achtsamkeit gefordert.

Wird denn nicht gerade Selbstbestimmung bis zum Schluss als ein elementarer Bestandteil der Menschenwürde gesehen?

Dr. Kutscheid: Würde wird wesentlich in Beziehung erfahren  Es sind Beziehungen, die Würde stärken, stützen und erhalten können. Palliative Care gewinnt dabei Bedeutung als „würde-bewahrendes Element“ und erspürt, dass Selbstbestimmung bis zum Schluss für den Patienten auch heißt: Ich bin wahr- und angenommen bis zum Schluss, mit meinen Wünschen, mit meinen Grenzen und in meiner Not. Helfende aus palliativen und hospizlichen Teams gehen dabei nicht selten an die Grenzen des für sie Leistbaren und Vertretbaren, aber sie sollten nicht über Grenzen gehen. Aus ihrem lebens-bejahenden Ansatz heraus bietet Palliative Care umfassende Hilfe beim Sterben an, jedoch nicht Hilfe zum Sterben.


Ansprechpartner:
Dr. med. Petra Kutscheid
Tel: +49 2602 684-660
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